Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Anhörung des Beschuldigten vor Akteneinsicht an Verletzte in Strafverfahren

Der Verletzte hat im Strafprozess nach § 406e Abs. 1 StPO ein Akteneinsichtsrecht. Die Akteneinsicht ist jedoch zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen (§ 406e Abs. 2 Satz 1 StPO) bzw. kann, nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens, versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint (§ 406e Abs. 2 Satz 2 StPO). In der Praxis unterbleibt eine Anhörung des Beschuldigten vor Gewährung von Akteneinsicht an den Verletzten oft durch die Staatsanwaltschaften oder ein Gericht. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu nun deutlich Stellung bezogen.

Doch warum ist die Frage der Gewährung von Akteneinsicht an den Verletzten in der Praxis so relevant?

Besondere Relevanz hat die Frage der Gewährung von Akteneinsicht an den Verletzten insbesondere in Strafverfahren, denen eine sogenannte Aussage-gegen-Aussage Konstellation zugrunde liegt. In diesen Fällen ist die Akteneinsicht nach zutreffender Auffassung regelmäßig zu versagen. Denn durch die Aktenkenntnis des Verletzten ist in diesen Konstellationen eine Beeinträchtigung der Sachaufklärung zu besorgen, wenn der Verletzte seine Angaben in einer Hauptverhandlung an den Akteninhalt anpassen könnte (Vgl. OLG Hamburg, NStZ 2015, 105). Es ist außerdem eine Beeinträchtigung der Brauchbarkeit der sogenannten Konstanzanalyse zu besorgen. Bei der Betrachtung von verschiedenen Aussagen einer Person über denselben Sachverhalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten ist die Aussagekonstanz unter aussagepsychologischen Gesichtspunkten ein wichtiges Kriterium, um darüber zu befinden, ob eine Aussage auf wirklich Erlebtem basiert oder nicht. Dies ist darin begründet, dass in der Aussagepsychologie anerkannt ist, dass Erinnerungen an selbst erlebte Ereignisse länger im Gedächtnis behalten werden als nur mental Vorgestelltes. Nach den Erkenntnissen der modernen Aussagepsychologie ist es deshalb in Aussage-gegen-Aussage Konstellationen daher stets geboten, zu prüfen, ob der angebliche Opferzeuge Zugang zu der Ermittlungsakte hatte und diese gelesen hat. Aktenkenntnis führt nämlich wegen der Lernfähigkeit des Gedächtnisses praktisch zur Unbrauchbarkeit der Konstanzanalyse und zur Gefahr von Erinnerungsverfälschungen, etwa wegen der gedächtnispsychologisch bekannten Möglichkeit von Quellenverwechslungsfehlern. Folglich führt die Aktenkenntnis des Verletzten in Aussage-gegen-Aussage Konstellationen nach richtiger Auffassung jedem Fall zu einer Gefährdung des Untersuchungszwecks im Sinne des § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO und sollte versagt werden.

Kürzlich hat sich – erfreulicherweise – das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 08.10.2021 (1 BvR 2192/21) noch einmal sehr deutlich zum Akteneinsichtsrecht des Verletzten positioniert. Das Bundesverfassungsgericht macht dabei deutlich, dass einer Akteneinsichtsgewährung zwingend eine Anhörung des Beschuldigten vorauszugehen hat, was leider in der Praxis oftmals nicht beachtet wird. Das Gericht führt aus:

„In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass die Gewährung von Akteneinsicht nach § 406e Abs. 1 StPO regelmäßig mit einem Eingriff in Grundrechtspositionen des Beschuldigten, namentlich in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, verbunden ist und die Staatsanwaltschaft vor Gewährung der Akteneinsicht deshalb zu einer Anhörung des von dem Einsichtsersuchen betroffenen Beschuldigten verpflichtet ist. Die unterlassene Anhörung stellt einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar, der durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden kann. 

Mit Blick auf die Art und Weise der Anhörung ist zu berücksichtigen, dass es das Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG als prozessuales Urrecht (vgl. BVerfGE 70, 180 <188>) gebietet, in einem gerichtlichen Verfahren grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfGE 9, 89 <96>; 57, 346 <359>).“

Dem ist vollumfänglich zuzustimmen. Das Bundesverfassungsgericht macht hier deutlich, dass aus dem Prozessgrundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs folgt, dass der Betroffene mit seinen Argumenten auch tatsächlich gehört werden muss. Denn eben dieser Zeitpunkt, Argumente vor einer Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft oder das Gericht vorzutragen wäre in der Praxis der Zeitpunkt, um beispielsweise die Argumente, die gegen eine Gewährung von Akteneinsicht an den Verletztenvertreter sprechen, vorzutragen. Unterbleibt diese Möglichkeit und werden durch die Gewährung von Akteneinsicht an den Verletzten gewissermaßen vollendete Tatsachen geschaffen, leidet das Verfahren an einem unheilbaren Mangel. Strafverteidiger sollten in Strafverfahren, in denen die Frage der Gewährung von Akteneinsicht an den Verletztenvertreter eine Rolle spielt, möglichst frühzeitig auf die angeführten Bedenken hinweisen und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Bezug nehmen, wonach der Beschuldigte vor einer Entscheidung über die Akteneinsichtsgewährung angehört werden muss.